Dienstag, 01. November 2022
Grußworte November 2022
Liebe Leserin, lieber Leser,
ich sah eine eintätowierte Zahl auf ihrem blanken Oberarm. In ihrem langen Kleid und ihren eleganten Schuhen hatte sie Mühe, den Weg zur Gedenkstätte hinaufzugehen. Auch jetzt fiel es ihr sichtlich schwer, sich sicher auf den schmalen Pfaden zu bewegen, die die einzelnen Gebäude miteinander verbanden.
Wir waren in der KZ Gedenkstätte Natzweiler-Struthof im Elsass. Mit der Sozialarbeiterin, die sich für Sinti-Frauen im sozialen Brennpunkt Maifischgraben in Neustadt/Wstr. engagierte, war eine Wallfahrt zum Odilienberg geplant worden. Der Odilienberg ist eine wichtige Wallfahrtsstätte, die von vielen Sinti-Familien aufgesucht wird. Die Quelle, die unterhalb der Kirche entspringt, verspricht Heilung. Die heilige Odilia solle besonders bei Augenleiden helfen. Es schien mir, dass dies unseren Frauen eher nebensächlich erschien. Ich wurde abseits geschickt und ich vermute, dass sich unsere Frauen mit dem Wasser der Quelle wuschen.
Die KZ Gedenkstätte liegt nicht weit vom Wallfahrtsort entfernt. Wir fassten in der Vorbereitung den Entschluss, zunächst Natzweiler-Struthof zu besuchen und dann den Abschluss auf dem Odilienberg zu machen. Hier wollten wir in der Pilgergaststätte gemeinsam essen und den Ausflug ausklingen lassen. Zunächst sollte der Ort des Unheils besucht werden, um mit einem Ort des Heils und der Heilung den gemeinsamen Tag zu beenden.
Es war ein schöner gemeinsamer Tag. Unsere bunte Gruppe stach heraus. Die Frauen waren gelegentlich laut und manchmal wirkten sie etwas unbeholfen. Da sie ihre Opferkerzen, die sie gekauft hatten, nicht gleich entzünden konnten, beunruhigte sie der Gedanke, sie würden erneut zum Kauf angeboten. Ich versuchte unsere Frauen zu beruhigen und ihnen zu versichern, dass dies an dieser heiligen Stätte nicht geschehen werde. Ja, unsere Gruppe war anders und lenkte den einen und anderen Blick der andächtigen Pilger und Beter auf sich. Ich vermute, dass wir auch Gegenstand des einen oder anderen Gespräches wurden.
Ich habe die Frau auf ihre Tätowierung nicht angesprochen. Ich weiß heute nicht mehr, warum ich es nicht getan habe. Ich wusste, dass Inhaftierten in Konzentrationslagern eine Nummer eintätowiert wurde. Ob sie dieses Schicksal teilte, weiß ich nicht. Sie wäre damals wohl noch ein Kind gewesen.
Wir erinnern uns im Monat November nicht nur unserer Toten, sondern auch an die Opfer der sinnlosen und menschenverachtenden Kriege. Wir gedenken der Menschen, die ihr Leben einbüßten, weil sie als ‚lebensunwert‘ galten. Millionen von Menschen, die jüdischen Glaubens waren, die zu den Sinti und Roma gehörten, die aus politischen Gründen, wegen ihrer Religion oder sexuellen Orientierung in den Augen der Machthaber und vieler ‚Mitläufer‘ und Helferinnen und Helfer, den Tod verdienten.
Ich werde jene Frau nicht vergessen, wie auch mein Schweigen.
Ich erinnere mich an den französischen Philosophen Emmanuel Levinas (1905-1995). Aus seinen jüdischen Traditionen suchte er eine neue Begründung der Ethik, die auf der Begegnung mit dem ‚anderen‘ gründet und die Fähigkeit des Dialoges mit ihm zum zentralen Ausgangspunkt seiner Überlegungen machte.
Der jüdisch-christlichen Tradition ist das Bekenntnis gemeinsam, dass Gott den Menschen nach seinem Ebenbild geschaffen habe. Levinas führt dazu aus: ‚Diese Ebenbildlichkeit kündigt sich im ‚Du‘ nicht im ‚Ich‘ an. Dieselbe Bewegung, die zum Nächsten führt, führt zu Gott.‘ (vgl CGG Bd 1, S 80)
Jedwede Begegnung, jedweder Dialog führt uns zu Gott und schenkt uns die Gnade, an seinem Geheimnis teilzuhaben.
Ich gestehe, schwierige Gedanken, die ich Ihnen jetzt vorlege. Gedanken jedoch, die mich an jenen Tag und jene Begegnungen im KZ und auf dem Odilienberg führen. Gedanken und Erinnerungen, die mich angesichts der aktuellen gesellschaftlichen und politischen Situation beunruhigen. Dialog, nicht Schweigen, sich dem und der anderen aussetzen, um darin das Geheimnis Gottes zu erahnen, dies hat mir der gemeinsame Tag mit jenen Frauen geschenkt.
Jede Begegnung, jede geteilte Erfahrung mit einem Menschen lässt uns das Geheimnis Gottes erahnen. Es ist und bleibt sein Geheimnis, ihn im ‚anderen‘ zu entdecken.
Ich wünsche Ihnen von ganzem Herzen, dass Sie in den dankbaren Erinnerungen an ihnen nahestehende Menschen, diese Geheimnis tief in Ihrem Herzen tragen. Ich wünsche uns allen, dass wir gemeinsam im Geist der Achtsamkeit und Würde, der Gerechtigkeit und Versöhnung, der Verantwortung und der Sympathie uns vom Geheimnis Gottes umfangen lassen.
Mit den herzlichsten Segenswünschen
Markus Hary, Pfarrer
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