Donnerstag, 08. Dezember 2022
Dornwaldrosen

Dornen tragen Rosen. Bild von Sieger Köder (1925 bis 2015) zum Lied „Maria durch ein Dornwald ging“. (Foto: Sieger Köder / Schwabenverlag Ostfildern)
Gott kommt als Kind, uns zu erlösen
Ein starkes Lied im Advent ist „Maria durch ein Dornwald ging“. Es besingt, wie die Gottesmutter mit dem Jesuskind unterm Herzen durch den Dornwald geht und die Dornen auf einmal Rosen tragen. An dieses Wunder knüpft das Lied das viel größere Wunder an: die Erlösung von Sünde und Tod.
Das ursprünglich siebenstrophige Lied aus dem 19. Jahrhundert wurde mündlich überliefert, bis es 1850 in die Sammlung geistlicher Lieder von August von Haxthausen kam. Populär wurde es – in der Fassung der ersten drei Strophen (Gotteslob 224) – durch die Jugendbewegung Anfang des 20. Jahrhunderts. Schön hat es Sieger Köder (1925 bis 2015) gemalt: Maria, von dem sperrigen Gestrüpp mit spitzen Dornen bedrängt, hält ihre Arme vor sich, das Kind unter ihrem Herzen zu schützen. Und aus dem starren, dornigen Gehölz blühen rosarote Rosen.
Zunächst erscheint das Lied gefällig leicht, mit den schlichten Fragen und Antworten, aber es ist ernst: Der Weg durch den Wald ist mühsam, die Dornen sind spitz, sie stechen, reißen, verletzen. Biblische Wurzel des Liedes ist der weite, beschwerliche Weg der schwangeren Gottesmutter ins Bergland von Judäa zu ihrer Verwandten Elisabet (Lukas-Evangelium 1,39). Doch das Lied erzählt frei, angefangen im Alten Testament, von der Erlösung durch Gottes Menschwerdung in jenem Kind, das die Gottesmutter jetzt noch unter ihrem Herzen trägt und bald zur Welt bringen wird.
Der Dornwald ist der Inbegriff für die vom Menschen selbst verschuldete „Verderbnis“ der Erde, in die Gott ihn verwies, als er sich über ihn erhoben hatte: Statt es sich im fruchtbaren „Garten Eden“ gut gehen zu lassen, muss der Mensch nun in Mühsal zwischen „Dornen und Disteln“ leben (Buch Genesis 3,17–19). Wo der Mensch sich nicht mehr Gott verdankt weiß und ihn als den Herrn der Schöpfung anerkennt, wächst ungehindert das Gestrüpp mit gefährlichen Dornen von Gottvergessen und Selbstüberhebung, von Selbstgerechtigkeit, Stolz, Eigenmächtigkeit. Die Erde verwildert zum Dornwald, der dem Menschen über den Kopf wächst, so dass er nicht mehr Herr über ihn wird.
Nur Gott selbst kann die Welt vom Dornwald befreien, die Menschen aus den gefährlichen Dornen erlösen: Er gibt seinen eigenen Sohn hin, in diesen Dornwald. Jesus Christus wird nicht verschont vor den Dornen, sie fügen ihm blutige, schmerzende Wunden zu, sie töten ihn. Der Inbegriff dafür ist der „Kranz aus Dornen“ auf dem Haupt des Gekreuzigten. „Er war Gott gleich, hielt aber nicht daran fest, Gott gleich zu sein, sondern er entäußerte sich und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich ... Er erniedrigte sich und war gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz.“ So – nicht über das Kind in der Krippe – sprechen die ersten Christen von Advent und Weihnachten. Und dann, im selben Atemzug, über Ostern: „Darum hat Gott ihn über alle erhöht, … damit jeder Mund bekennt: Jesus Christus ist der Herr zur Ehre Gottes. des Vaters“ (Philipperbrief 2,6–11).
Weihnachten feiern wir die Wende: Die Dornen haben ihre scheinbar unüberwindbare, übergroße Macht verloren und – gegen alle Erwartungen – begonnen, Rosen zu tragen. So lautet die siebte und letzte Strophe von „Maria durch ein Dornwald ging“, die ja leider nicht mehr gesungen wird: „Wer hat erlöst die Welt allein? ... Das hat getan das Christkindlein, das hat erlöst die Welt allein.“ (kh)