Mittwoch, 29. Juni 2022
Ein drängendes Problem

Wer denkt an mich? Studien zeigen, dass über 40 Prozent der Deutschen einsam sind. (Foto: iStockphoto/Getty Images)
Das Bundesfamilienministerium startet eine Kampagne gegen Einsamkeit
Viele Menschen fühlen sich in Deutschland einsam, erst recht seit Beginn der Pandemie. Wissenschaftler wollen Einsamkeit nun besser erforschen – und mit Politikern Vorurteile bekämpfen.
Einsamkeit hat viele Gesichter. Die ältere Frau, die ihren Ehemann verloren hat, kann sich einsam fühlen. Oder der Unternehmensberater, der für seinen Job ständig unterwegs ist. Oder der Jugendliche, der schon immer das Gefühl hatte, nicht richtig dazuzugehören. „Es gibt nicht die eine Form von Einsamkeit und die eine einsame Person“, sagt Martin Gibson-Kunze, wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Kompetenznetz Einsamkeit.
Eine Studie des Sozio-ökonomischen Panel zeigt, dass die Zahl der Menschen in Deutschland, die sich einsam fühlen, in der Corona-Zeit von 14 Prozent auf über 40 Prozent gestiegen ist. Einsamkeit ist kein neues Phänomen, aber durch die Pandemie ist es gewachsen. „Das ist ein gesellschaftlich sehr drängendes Problem“, sagt Gibson-Kunze.
Das Bundesfamilienministerium hat nun eine Kampagne gegen Einsamkeit gemeinsam mit dem Kompetenznetz Einsamkeit gestartet. Die Wissenschaftler wollen forschen, Daten erheben und Strategien entwickeln. „Wir fragen uns: Wo sind Regionen oder Hotspots von Einsamkeit? Welche Gruppen sind besonders gefährdet? Welche Maßnahmen gibt es schon, um den Menschen zu helfen?“, sagt Gibson-Kunze.
Kirchen können einsame Menschen aus ihrer Unsichtbarkeit holen
Einsamkeit soll ein Thema werden, über das in der Gesellschaft gesprochen wird. „Es darf kein Stigma mehr sein“, sagt Gibson-Kunze. Einige Menschen reagierten dankbar, wenn sie auf ihre Einsamkeit angesprochen werden. Viele aber wiegelten ab. „Es gibt das Vorurteil, dass einsame Menschen selbst die Schuld daran tragen“, sagt Gibson-Kunze. Sie seien nicht in der Lage, soziale Kontakte zu haben oder Freundschaften zu knüpfen, heißt es. „Diese Sicht auf Einsamkeit wollen wir aufbrechen.“
Eine wichtige Rolle komme dabei den Kirchen zu. Sie sind gut vernetzt und nah bei den Menschen. „Dort fällt es auf, wenn eine Frau oder ein Mann länger nicht zum Gottesdienst gekommen ist“, sagt Gibson-Kunze. „Besuchsdienste können zum Beispiel helfen, damit einsame Menschen aus ihrer Unsichtbarkeit herauskommen.“
Auch ein Blick ins Ausland kann helfen, neue Ideen zu entwickeln: In Dänemark werden zum Beispiel auf öffentlichen Plätzen häufig halbrunde Bänke aufgestellt, damit die Menschen leichter miteinander ins Gespräch kommen. „Der Kampf gegen Einsamkeit betrifft viele Bereiche des Lebens. Da geht es nicht nur um soziale Aspekte oder um therapeutische Hilfen, sondern zum Beispiel auch um die Frage, wie wir den öffentlichen Raum gestalten können“, sagt Gibson-Kunze.
Er findet auch die Idee eines Einsamkeitsministeriums gut, das es seit 2018 in Großbritannien gibt. „Die Briten haben das Thema auf die politische Agenda gesetzt“, sagt Gibson-Kunze. „Das sorgte für unglaublich viel Aufmerksamkeit.“ (Kerstin Ostendorf)